Erbscham: Wenn plötzlich Geld da ist, über das man nicht sprechen darf
Plötzlich ist es da – das Geld. Nicht durch eigene Arbeit verdient, nicht durch ein Business aufgebaut, sondern durch einen Anruf vom Notar. Ein Elternteil, ein entfernter Onkel, vielleicht sogar ein guter Freund hat etwas hinterlassen. Und mit dem Geld kommt ein seltsames Gefühl: Scham.

Die stille Last des unverhofften Vermögens
In einer Gesellschaft, die Leistung hochhält und Erfolg am eigenen Einsatz misst, wirkt ein Erbe fast wie ein Regelbruch. Es fühlt sich an wie ein unverdientes Geschenk – und genau darin liegt das Problem. Die plötzliche finanzielle Freiheit wird nicht als Belohnung empfunden, sondern als Belastung. Viele sprechen nicht darüber, aus Angst, missverstanden zu werden. Wer plötzlich über viel Geld verfügt, schweigt. Aus Rücksicht, aus Unsicherheit – oder aus purer Scham.
Warum wir uns für Erbschaften schämen
Erbscham ist kein offiziell anerkanntes Phänomen, aber in Gesprächen mit Betroffenen taucht sie immer wieder auf. Die Gründe sind vielfältig:
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Der Mythos vom „ehrlich verdienten Geld“: Erfolg soll die Folge harter Arbeit sein. Ein Erbe durchbricht dieses Narrativ.
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Die Angst vor Neid: In einer Zeit, in der viele kämpfen, wirkt geerbter Wohlstand wie ein Tabu.
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Der Zusammenhang mit Verlust: Jeder Euro ist mit dem Tod eines Menschen verbunden – auch das macht das Thema emotional schwer greifbar.
Diese Mischung sorgt dafür, dass viele Erben sich emotional überfordert fühlen – selbst wenn das Konto plötzlich prall gefüllt ist.
Schuldgefühle, Isolation und die neue Lebensrealität
Wer erbt, muss oft nicht nur trauern, sondern auch plötzlich Entscheidungen treffen: Immobilien verkaufen, Konten umschichten, eventuell sogar den Job kündigen oder reduzieren. Doch anstatt offen über diese Umbrüche zu sprechen, ziehen sich viele zurück. Freunde, die weiterhin arbeiten, könnten sich abgehängt fühlen. Gespräche über Geld? Lieber vermeiden. Und so entsteht Isolation.
Nicht selten kommen Schuldgefühle hinzu – etwa wenn Geschwister weniger erben, wenn der Verstorbene mit dem Erbe „Druck“ verbunden hat oder wenn das eigene Leben plötzlich besser läuft als das der langjährigen Freunde.
Strategien für einen offenen Umgang mit dem Erbe
Es gibt keinen „richtigen“ Weg, mit einer Erbschaft umzugehen. Aber es gibt Wege, die psychische Last zu mindern:
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Erkennen, dass Erbschaft keine Schuld ist: Es ist weder ein Vergehen noch ein moralischer Makel, ein Erbe anzunehmen.
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Finanzielle Bildung nutzen: Wer sein Vermögen bewusst verwaltet, wird zum Gestalter statt zum passiven Erben.
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Diskretion statt Heimlichkeit: Man muss nicht alles erzählen – aber sich bewusst gegen Verdrängung entscheiden.
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Coaching oder Austausch suchen: Gerade für Erst-Erben kann es entlastend sein, Erfahrungen zu teilen – anonym oder im kleinen Kreis.
Vom passiven Erben zum aktiven Privatier
Ein Erbe kann eine Last sein – oder ein Startpunkt. Für viele bedeutet es auch: die Möglichkeit, sich aus dem Hamsterrad zu lösen, neue Lebensentwürfe zu entwickeln oder Gutes zu tun. Doch dafür braucht es Mut. Und Klarheit.
Wer es schafft, aus dem inneren Konflikt eine konstruktive Haltung zu entwickeln, hat die Chance, das Geschenk eines Erbes sinnvoll zu nutzen – für sich selbst, die Familie oder auch die Gesellschaft. Ob durch Investitionen, soziales Engagement oder schlicht mehr Zeit für die Dinge, die wirklich zählen.
Fazit: Man darf über Geld sprechen. Auch über geerbtes.
Scham entsteht oft dort, wo nicht gesprochen wird. Deshalb ist Offenheit ein erster, wichtiger Schritt. Nicht im Sinne von Prahlerei, sondern als Ausdruck innerer Klarheit: Es ist okay, ein Erbe anzunehmen. Es ist okay, sich finanziell zu verändern. Und es ist okay, ein neues Kapitel im Leben aufzuschlagen – auch wenn man es sich nicht „erarbeitet“, sondern geerbt hat.